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In Russland erzahlt man sich, wie in aller Welt, seit vielen
Jahrhunderten Marchen. Manche von ihnen haben uberall im Lande
Verbreitung gefunden, andere sind weniger popular geworden. Doch
keines von ihnen hat eine solche Volkstumlichkeit erlangt, wie ein
Marchen, das erst gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts
entstanden ist: das Hockerpferd, ein Versmarchen des Dichters Pjotr
Jerschow (1815-1869). Jerschow war gerade sechzehn Jahre alt, als
er in die russische Hauptstadt Petersburg kam, um an der
Universitat zu studieren. Hier machte er bald die Bekanntschaft
mehrerer bedeutender Literaten, darunter auch die des grossten und
beruhmtesten russischen Dichters, Alexander Puschkin, der um diese
Zeit selbst schone und lustige Versmarchen zu schreiben begann, die
in Russland bis auf den heutigen Tag jedes Kind kennt. Als aber
Jerschow in wenigen Wochen sein Hockerpferd niederschrieb, war
allen klar, dass er sogar Puschkin ubertroffen hatte. Doch blieb
das Hockerpferd sein einziges so geglucktes Werk. Er schrieb
spater, als er sein Studium absolviert hatte und als Schulrektor
nach der sibirischen Stadt Tobolsk versetzt wurde, noch viele
Verse, doch blieb ihnen der Erfolg versagt. Das Hockerpferd dagegen
hat nicht nur die mehr als 150 Jahre uberlebt - es wird fast jedes
Jahr von den verschiedensten Verlagen aufs neue herausgegeben und
ist dann in wenigen Tagen vergriffen; eine Oper und ein Ballett,
die den beliebten Titel tragen, stehen standig auf dem Spielplan
vieler Musiktheater, darunter eines der grossten in der Welt - des
Moskauer Bolschoi, und die beruhmtesten russischen Schauspieler
rezitieren das Marchen immer wieder im Rundfunk. Diese Beliebtheit
erklart sich wohl vor allem daraus, dass die Hauptfigur des
Marchens Iwan der Tropf oder der Dummkopf, der gar nicht so
einfaltig oder dumm, sondern ganz hubsch klug und ziemlich schlau
ist, einen echten russischen Volkscharakter darstellt. Naturlich
einen ironisch gesehenen Volkscharakter, doch tut ja ein Schuss
Selbstironie dem menschlichen Herzen und dem menschlichen Geist
stets wohl. Hinzu kommt, dass der eigentliche Gegenspieler Iwans,
der Zar, nun ein wirklicher Blodling ist, und das wird von den
Russen gleichsam als Racheakt gegen die despotischen Herrscher
empfunden, die zu Jerschows Zeiten und oft auch spater, bis in
neueste Zeit hinein, das Land nicht so sehr lenkten als vielmehr
unterdruckten. Bei alldem ist aber das Hockerpferd ein lustiges,
interessantes und geistreiches Marchen, das Kinder wie Erwachsene
gern aus reinem Vergnugen lesen. Dabei sollte der deutsche Leser
beachten, dass der Name unseres Helden, Iwan, im Russischen auf der
zweiten Silbe betont wird .
1927 zieht der Vater des damals vierjahrigen Michail Schaiber, der
sich spater das Pseudonym Michail Sokolski zulegen wird, als
Angestellter der sowjetischen Handelsvertretung von Moskau nach
Berlin, wo die Familie bis Ende 1933 lebt. Der Junge wachst
zweisprachig in der deutschen Hauptstadt heran und erlebt die
politischen Veranderungen im Land aus der doppelten Perspektive des
Einheimischen und des Auslanders. Hier entdeckt er seine
Leidenschaft fur das Schachspiel und den Fussball; hier macht er
dank seiner eigenen Beziehungen zu den Kindern der Hinterhofe und
dem gesellschaftlichen Umfeld seines Vaters Bekanntschaft mit
Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft, politischer und
menschlicher Gesinnung und Zukunft; hier hat er
Schlusselerlebnisse, die ihn sein Leben lang daruber nachdenken
lassen, auf wie dunnem Eis sich Humanitat und geistige Prinzipien
in der Welt des 20. Jahrhunderts bewegen. Sechzig Jahre spater
erinnert sich Michail Schaiber-Sokolski auch an diese Zeit: Seine
Kindheit in Berlin. Der erste Teil seiner Erinnerungen Wahres
Gedachtnis erschien 2001 in russischer Sprache im Blaue Horner
Verlag in Marburg: Es war eine verhangnisvolle Zeit
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